
Ich versuchte, mich zu entspannen. „Wo bleibt die Lust? Hast du noch Freude am Radfahren?“ fragte mich Daniel am Telefon. Und ich war ehrlich zu mir selbst: „Nein.“
Nachdem ich Arequipa verliess und mich an der Cones and Canyons Bikepacking Route orientierte, begannen die Tage mit einem flauen Gefühl der Angst im Bauch. „Wie soll ich das schaffen?“

Jeden Morgen sass ich eingeschüchtert, ängstlich auf Charlotte oder nahm gleich den Lenker in die Hand und begann zu schieben. Es war anstrengend, zu anstrengend. und es machte keinen Spass, überhaupt keinen.

Ich war nicht an die Höhe gewohnt und darum fehlte mir schon ab 3500 mNN der Sauerstoff. Es ging so unendlich langsam voran.

Eine Steigung von 3% fühlte sich in diesen Höhen nach 10% unter normalen Bedingungen an. Jeder Hügel lag wie ein unbezwingbarer Berg vor mir. Die Regenzeit war noch nicht ganz vorbei, und nach einer regenreichen Nacht im Zelt auf lehmig matschigem Boden suchte ich nach festen Unterkünften oder alternativ einem Dach für mein Zelt.

In Caylloma stand ich vor einem Dilemma: 48 Kilometer auf einer unasphaltierten Piste und 1200 Höhenmeter trennten mich vom nächsten Dorf. Dazu war wieder Regen angesagt. Er würde die Strasse zu einer einzigen Matschpiste verwandeln. Ein Ding der Unmöglichkeit für mich. Bis zum nächsten Tag musste ich mir etwas einfallen lassen. Nachts wachte ich auf und schlief mit dem beruhigenden Gedanken wieder ein: Ich werde den Bus nehmen. Ganz einfach.
Der Bus sollte erst nachmittags fahren, und so hatte ich den ganzen Tag Zeit, Caylloma zu erkunden. Ich schlenderte über den Markt und ass leckeres Alpakafleisch mit Salat an einem Strassenstand.


Zuvor besuchte ich eine Schulzeremonie auf der Plaza vor der Schule. Fahnen wurden geschwungen und am Mast hochgezogen. Wichtige Reden des Polizeichefs, dem Schuldirektor und des Bürgermeisters wurden gehalten. Die Kinder der Schule standen stramm und die Eltern klatschten. So ganz habe ich den Hintergrund nicht verstanden.


Der Bus kam. Der Fahrer sah mein beladenes Fahrrad: „No hay espacio.“ – Es gibt keinen Platz.- Stimmt! Die Laderäume waren voller Taschen, Kartoffelsäcke, Kartons. Die Ueberlandbusse werden hier auch als Postautos genutzt. Mit dem Wissen, dass hier in Südamerika irgendwie doch alles klappt, blieb ich standhaft und liess mich nicht abwimmeln.
Und am Ende lag Charlotte, das Vorderrad abmontiert, auf irgendwelchen Säcken, meine Taschen in geschaffte Lücken gequetscht.
Es ging auf 4800 mNN hinauf. Der Regen wurde zu Schnee. Der Bus schaukelte sich wie ein Schiff auf dem Meer meterweise vorwärts. Schneebedeckte Alpakas und Vikuñas suchten unter dem Schnee nach Gräsern. Ich beobachtete durch die sich langsam von innen vereisende Fensterscheibe die graue, gruselige Szenerie da draussen. Die Nacht wurde schwarz und ich war froh, dass wenigstens die Scheinwerfer des Busses im Gegensatz zu den Scheibenwischern funktionierten.


Tatsächlich kamen wir pünktlich und heile in Orcopampa an. Meine lila Schwimmnudel war weg. Egal.
Ich zögerte am nächsten Morgen den Moment hinaus, das sichere, gemütliche Hotelzimmer zu verlassen und mich wieder ins Abenteuer zu stürzen.
„Buenos Dias, Mamita Gringa. Dedonde vienes?“ Orcopampa gefiel mir und anstatt nach links abzubiegen, hinaus aus der Stadt, bog ich nach rechts ab, Richtung Fussgängerzone. In einer Bäckerei lernte ich Patricia kennen. Ich fragte sie nach einer Tasse Cafe, den sie nicht hatte, und so bot ich ihr meinen Cafe an. Sie müsste nur noch heisses Wasser besorgen und wir könnten zusammen Cafe trinken.
Wir sassen in ihrem kleinen Laden, und sie lud mich ein zu bleiben. Ich könnte im ehemaligen Zimmer ihrer Tochter schlafen.
Sie erzählte mir von den heissen Quellen in der Nähe und spontan beschlossen wir, dort hinzufahren. Den Laden machte sie zu. die meisten Kunden würden eh erst nachmittags kommen.


Was für ein Genuss!
Zwei Tage später erreichte ich Andagua.
Und weil mir die Kraft für die nächsten 1200 Höhenmeter fehlten, hielt ich das erstbeste Auto an. Eine halbe Stunde brauchten wir, um den Pass auf 4900mNN zu erreichen. Die drei Insassen machten sich Sorgen um mich. Nichts als Felsen, ein schneebedeckter Berg, einige Vikuňas und ein kleiner Fuchs, der zwischen den Flaschen und Plastiktüten nach etwas essbaren suchte, empfingen uns hier oben. Kalt wehte der Wind.



„Das wird nix.“ Ich betrachtete skeptisch meinen weiteren Weg, eine matschig-lehmige, von tiefen wassergefüllten Furchen durchzogene Piste. Nach 1,90 m, einer Radumdrehung gab ich auf. Der Lehm klebte zwischen Reifen und Schutzblech, die Bremsen völlig zugekleistert. Ich trug Charlotte die knapp zwei Meter zurück auf festen Boden. Ein Umweg von über 250 km um ins 30 km entfernte Arma zu gelangen? Ja, mir blieb nichts anderes übrig.

Fast 4000 Meter ging es am nächsten Tag bergab. Ein Erlebnis ohnegleichen. Irgendwann verfing sich wieder der Duft von Blumen, Pinienbäumen und Kuhscheisse in meiner Nase. Ich roch den Zigarettenqualm in den vorbeifahrenden Autos. Ich roch den Müll am Strassenrand. Büsche und Bäume spendeten wieder Schatten. Die Luft, warm und dick. In engen Serpentinen ging es bergab, die Strasse für zwei entgegenkommende Autos zu schmal.

Pflanzen und Grün verschwanden plötzlich wieder und ich raste entlang grau, brauner Felsformationen, Gesteinen, Sand und Geröll dem Meer entgegen. So etwas habe ich noch nie gesehen, und so etwas hätte ich auch nie gesehen, wenn diese Piste da oben nicht so matschig gewesen wäre.


Aplao erreichte ich kurz vor der Dunkelheit. Heiss, stickig und laut empfing mich die Stadt auf gerade einmal 600 mNN. Ich sehnte mich nach der stillen Einsamkeit der Berge, den Alpacas und der Kälte zurück.

Ich nahm vormittags den ersten und letzten Bus 2300 Höhenmeter hoch nach Chuquibamba und radelte an diesem Tag tatsächlich noch 1000 Meter höher, fand abends einen wunderschönen Zeltplatz, versteckt hinter mannshohen Steinen. Sterne und Stille umgaben mich zärtlich, während ich vor dem Zelt sitzend, meine Hände an der Tasse Tee wärmte. Sehr dankbar und sehr glücklich, angefüllt mit einem Gefühl tiefer Zufriedenheit zog ich den Reissverschluss meines kuschelig, warmen Schlafsackes hoch bis über die Nase.

Die Angst vor der Anstrengung, die mich anfangs jeden Morgen beherrschte, wurde geringer, weil ich mich von Tag zu Tag mehr an die Höhe gewöhnte. Noch einmal ging es auf 4751 mNN hinauf. Der bisher höchste erradelte Punkt meiner gesamten Reise.
An diesem Abend erreichte ich Arma und fand Zuflucht in einem ehemaligen Stall, der früher einmal Alpakas beherbergte. In dieser kleinen Ortschaft lebte eine Frau, welche ich zuvor um Erlaubnis fragte. Sie lebte von ihrem kleinen Laden und dem gekochten Essen, welches sie an die vorbeifahrenden LKW-Fahrer und Minenarbeiter verkaufte. Nein, Alpakas habe sie nicht mehr. Die grau-schwarzen Wolken, welche das Gewitter ankündigten, trugen erheblich zur Trostlosigkeit dieses Ortes bei.

Im Stall stapelten sich Alpakafelle in der einen, Müll in der anderen Ecke. Abgenagte Knochen lagen auf dem Fussboden. Ich hatte schon bessere Zeltplätze, aber das Wellblechdach war dicht und das zählte letztendlich.
Einen Tag später war ich in Cotahuasi. Auch hier reihte sich ein kleines Geschäft ans andere, und alle verkaufen sie dasselbe. Ein wenig Gemüse und Obst, Brötchen, Waschmittel, Kaugummis, Nudeln, Thunfischdosen und Instantcafe.



Schnell hatte ich meine drei Stammläden, denn mit den Inhaberinnen hatte ich immer kurze, nette Gespräche. Sonia erzählte mir von ihren drei Söhnen, die zwar alle einen Beruf hatten oder studierten, aber immer noch zuhause wohnten und nicht den geringsten Versuch unternahmen, eine Frau zu finden. Ihre Söhne waren der Meinung, sie müssten erst ein Nest (Haus, Auto..) bauen bevor sie sich auf die Suche machen könnten. Sonia hat dafür kein Verständnis, schliesslich hätte sie mit ihrem Ehemann gemeinsam ein Nest gebaut. Ein Mädchen hat ein Auge auf ihren jüngsten geworfen. Das macht ihr Hoffnung. Sonia hat ihren Laden jeden Tag von morgens bis abends geöffnet. Alleine sitzt sie dort und wartet auf Kundschaft. „Ja, es ist einsam“ sagt sie. Abends nach seiner Arbeit leistet ihr Mann ihr Gesellschaft.

Es war auch hier leicht, mit all den Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich fühlte mich herzlich willkommen und aufgenommen. Abschiede fallen mir unendlich schwer und so verliess ich auch Cotahuasi nach vier Tagen wieder einmal mit einer gewissen Traurigkeit.
Kurz vor Puyca lernte ich Eva Marisol kennen. Sie lud mich ein, bei sich zu schlafen. Ich lehnte zuerst ab, weil ich mich nach einem Zimmer mit heisser Dusche, weissen Bettlaken und einer Tür, die ich hinter mir zuschliessen konnte, sehnte. Doch so etwas gab es in Puyca nicht, und so fragte ich mich nach dem Haus von Eva durch. Sie hiess mich herzlich willkommen.

Melisa, ein Kind, welches dort mit ihr zusammen wohnte, begleitete mich zu einem Restaurant. Für Eva Marisol brachte ich ein Abendessen mit. Und ich fragte mich, was die beiden gegessen hätten, wenn ich nichts gekauft hätte. Auch Klopapier oder ähnlich fand ich nicht auf der Aussentoilette.
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Um sieben lagen wir alle im Bett. Es ist der wärmste Ort im Haus ohne Heizung, Ofen oder sonstigem, was irgendwie Wärme hätte erzeugen können. Draussen herrschten Temperaturen um null Grad. Der Wind zog durch die Fensterritzen und das Dach.
Keines der Häuser, nirgends, hat eine Heizung. Die einzige Wärmequelle ist der Ofen oder Gasherd in der Küche und diese ist weit abgetrennt vom Rest. Die Menschen ziehen sich einfach warm an. Drei, vier Röcke übereinander, dazu zwei Strumpfhosen, Stulpen aus Alpakawolle für die Waden, und eine Decke aus Schafwolle, die mit einer Sicherheitsnadel unter dem Kinn zusammengehalten wird, über Schultern und Rücken gelegt.
„Hier, möchtest du essen?“ Ich wurde eingeladen von einer kleinen Gruppe Bäuerinnen, die gerade am Strassenrand Mittag assen. Kartoffeln und Hähnchen. Danach gingen sie wieder auf das kleine Kartoffelfeld, gingen in die Hocke und gruben die Kartoffeln mit der Hand aus. Jede einzelne.
Ich erreichte Lauripampa und meine Zweifel wurden zur Gewissheit. Ich komme hier nicht weiter. Ich habe mich in eine Sackgasse manövriert. Auf dem nächsten Streckenabschnitt von 60 km würde kein Auto fahren. Es würde hoch auf 4900 mNN gehen. Schnee lag auf den Gipfeln. Ich müsste unendliche Schiebeetappen einlegen, und ich war doch jetzt schon so erschöpft.

Ich sass auf der kleinen Plaza vor der kurz vor dem Zerfall stehenden Kirche und war den Tränen nahe, nein, ich habe tatsächlich geweint. Ich schaffe es nicht. Alles umsonst. Obwohl, nein, nichts war umsonst. Ich habe so viele bereichernde Gespräche und Begegnungen gehabt, so viel erlebt, erkämpft und gesehen, so schöne Zeltplätze gefunden.
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Am nächsten Tag nahm ich den Bus, den einzigen, der wieder zurück fuhr. Wir brauchten für die 50 km viereinhalb Stunden. Ich sah aus dem Fenster, stolz, diese ganze Strecke, auf der der Bus sich Kilometer um Kilometer vorkämpfte, mit dem Rad zurückgelegt zu haben.




Ich stieg in den nächsten Bus nach Arequipa, erreichte schlaflos diese Stadt mitten in der Nacht und tat, was man eigentlich nicht tun sollte: sich nachts in unsicherer Gegend aufhalten. Ich wurde gewarnt, auf der Hauptstrasse zu bleiben. Sie sei sicherer. Ich fand endlich ein auch um 4 Uhr nachts offenes Hostel, schlief drei Stunden, verbrachte den nächsten Tag auf dem Markt, mich durch die Stände schlemmernd,


suchte ein Café, hielt mich mit doppeltem Espresso wach und wartete auf den nächsten Nachtbus nach Cusco. Auch auf dieser Fahrt konnte ich kein Auge zudrücken.
Busbahnhofimpressionen – Click on foto to enlarge



Das Hostel „Las Estrellitas“ in Cusco war schnell gefunden. Erinnerungen kamen hoch. Auch 2019 schob ich Charlotte durch das hölzerne Tor in den Innenhof. Es fühlte sich fast wie Nachhausekommen an. Erst mal schlafen, und dann gucken, wie es weitergeht.

Zwischen den Zeilen




























Sehr spannend! Pass weiter gut auf Dich auf und führe den Blog weiter. GrüÃe aus dem tropischen Berlin bei 38 Grad !Michael –Gesendet mit der WEB.DE Mail App
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