Upgraded life

Juni

Es ist Ende Juni. Ich bin in Deutschland. Nach vier gecancelten Fluegen bin nicht nur ich heile angekommen, sondern auch alle meine Sachen und Charlotte.

DSCF8858_ergebnisCharlotte in vier Bananenkartons

Ich wohne bei meinen Eltern in der Gartenhuette. Wir halten Abstand. Ich habe typische Coronasymptome, Husten, Schnupfen, Halsschmerzen. Nur den Cafetest bestehen meine Geschmacksnerven jeden Tag. Ich mache einen Test: negativ. Und dann betrete ich das erste Mal wieder die Wohnung meiner Eltern. Wir umarmen uns. Charlotte bleibt erstmal im Karton. Ich habe keine Lust, sie zu sehen, mich um sie zu kuemmern. Ich rufe auch niemanden an, will niemanden sehen. Nicht dass ich in ein Loch gefallen bin, aber meine Sinnesnerven sind tatsaechlich ueberbeansprucht und ich ueberfordert. Schon alleine die Farben. Alles war braun in San Pedro de Atacama: Die Strassen, die Haeuser,, die Mauern, die Berge, das Wasser.

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Vereinzelt gruene Buesche, deren Blaetter mit einer braunen Staubschicht bedeckt waren. Und hier ist alles bunt, die Haeuser, die Autos, die Zaeune, die Werbeschilder. Autoabgase, Essensgerueche, der mueffelige Geruch des Mittellandkanales geben meiner Nase nun wieder einen Sinn. San Pedro de Atacama roch nach nichts. 

Juli

Ich bin fix und fertig. Ich stehe im Fahrradladen. Die Kunden wollen bedient werden und ich koennte nur noch heulen. Ich schaffs nicht. Kann nicht mehr klar denken. „Geh mal nen Cafe trinken, hier sind drei Euro.“ sagt mein Chef. Ich beruhige mich ein wenig. 

Aber es kann nicht so weitergehen. 

Entweder ich kuendige oder ich werde gekuendigt. Oder wir versuchen es mit weniger Arbeit. 

August

Wir versuchen es mit weniger Arbeit und es ist gut so. Ich habe wieder Freude, bin wieder bei der Sache. Die Arbeit macht mir wieder Spass. 

Ich habe genug Zeit, vor meinem Zelt zu sitzen (ja, ich wohne wieder in meinem Zelt auf dem Campingplatz am Hahler Hafen) Cafe zu trinken, zu lesen, zu telefonieren, die Aussicht zu geniessen oder einfach nichts zu tun. Ich finde alte neue Freunde wieder. 

Wir sitzen am Kanal, trinken Wein und sehen den Schiffen und der untergehenden Sonne nach. 

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Aber so richtig bin ich noch nicht hier. 

„Da liegt ja richtig Schnee auf dem Vulkan“- denke ich, eine kegelfoermige Wolke vor Augen.

„Warum koennen sie das Viech nicht mal wegraeumen, so was ekliges“- kommt mir in den Sinn beim Anblick eines dreckigen grau-gruen-braunen Getuemes aus verschlungenen faustdicken Tauen am Kanalufer. 

September

Die Zeit plaetschert so vor sich hin. Regelmaessig besuche ich meinen Opa im Altenheim. Drei mal verabschiedete ich mich von ihm, mit der Gewissheit, ihn nie wieder zu sehen. Dass wir uns tatsaechlich noch einmal sehen… – Corona sei Dank. Ohne Corona wuerde ich jetzt irgendwo in den peruanischen Anden die Serpentinen hinaufstrampeln. Vielleicht haette ich meinen Traum, einmal mit Charlotte auf ueber 5000mNN zu fahren, schon erfuellt.

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Nur auf 4560 Meter Hoehe

Ich wuerde diese spektakulaeren Ausblicke, die ich bisher nur von Fotos kenne, selbst erlebt haben. Ich wuerde das leckere peruanische Essen geniessen, ich wuerde heulen vor Glueck und vor Anstrengung. Ich wuerde mich ueber meine kaputten Zeltreissverschluesse aergern und dankbar fuer jeden gefunden oder angebotenen Schlafplatz sein. Ich wuerde mit den Leuten am Strassenrand quatschen und ein wenig Quechua lernen, ich wuerde…Ach, hier ist es auch schoen. 

Am 27. September stirbt mein Opa. Diesmal war er es, der „Tschuess“ sagte, fuer immer. 

Oktober

Meine Eltern liegen mir in den Ohren: Du musst dir mal endlich eine Wohnung suchen, du kannst den Winter nicht im Zelt verbringen.

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Besuch im Zelt

Leider habe ich tatsaechlich ueberhaupt keine Vorstellung mehr von einem deutschen Winter. 

Ende Oktober bekomme ich eine Ahnung.

Es regnet fast eine Woche durchgehend. Es ist kalt. Ich hebe einen Graben um mein Zelt aus, denn da sammelt sich Wasser nicht nur unter dem Zeltboden. Am Fussende dringt es ins Innere. Von oben bleibt es dicht. Auch den ersten Herbststuermen haelt mein altes Aldizelt stand. 

Ich spuere jedoch jeden feucht-kalten Atemzug schmerzhaft in der Lunge. 

Ich glaube, ich muss mir wirklich eine Alternative ueberlegen. 

November

Ich haenge einen Zettel im Toilettenhaus aus. „Wohnwagen zu mieten gesucht…“ Durch die Suche lerne ich die Leute naeher kennen, die hier auch wohnen. Sie halten ihre Augen und Ohren fuer mich offen. Ich erfahre von Klaus, der sich einen neuen Wohnwagen kaufen wird. Einen Kaeufer fuer seinen alten hat er schon. Sein Nachbar klaert ihn auf: Also, bevor du den Wohnwagen an XY verkaufst, verkaufst du ihn an Heike.“ 

Ich kaufe ihn. Ein Buerstner, Baujahr 1981, 5,50m lang, mit Vorzelt. Kein TÜV, keine Gasabnahme. 

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Home - sweet home

Ich stecke noch einmal 300 Euro rein, finde per Zufall eine gebrauchte passende einwandfrei funtionierende Heizung, bekomme die Gasabnahme, gueltig bis November 2022.

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Gasabnahme

Meine Eltern helfen mir, den Wohnwagen aufzupeppen, ein neues Bett, frische Gardinen und und und…Sie stecken viel Zeit hinein. Ohne sie haette ich es nicht so schnell geschafft. 

Ich unterschreibe einen Pachtvertrag, fuer ein ganzes Jahr. Was mache ich da? 

Wann habe ich mich das letzte mal so festgelegt?

Mein Wohnwagen ist einzugsfertig. Und ich schlafe weiter im Zelt. Kann mich nicht trennen. Koche im Dunkeln bei Kerzenschein waehrend der Regen auf das Dach tropft. Die Kerzen spenden nicht nur Licht sondern auch Waerme. Ich finde es gemuetlich und kuschelig. 

Dann schlafe ich mal eine Nacht in meinem neuen Bett. Es fuehlt sich gut an. Zum Fruehstuecken gehe ich zurueck zum Zelt. Ich kann einfach nicht loslassen. 

An einem Sonntag ist der Zeitpunkt (endlich) gekommen. Ich baue das 30 Jahre alte Zelt ab und schmeisse es in die Muelltonne. 

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Vier Monate war hier mein Zuhause

Dezember

Ich liege in meinem Bett. Die Regentropfen trommeln laut aufs Dach. Der Wind, die Sturmboen zerren am Vorzelt. Der Wohnwagen wackelt. Ich kann nicht einschlafen. Ich weiss, meinem Zelt haette dieser Wind nichts anhaben koennen aber haelt mein neues Zuhause diesen Wind aus, oder kracht gleich das Vorzelt zusammen?

Mit Ohrenstoepseln schlafe ich dann doch ein. 

Ich richte mich haeuslich ein, kaufe einen einflammigen Gascampingkocher, der auch mit den grossen Gasflaschen betrieben werden kann, baue aus Ziegelsteinen und Glasplatten ein Regal. Ich richte mich ein. Ein Zuhause, nur fuer mich… 

Zu Weihnachten wuensche ich mir einen Akkustaubsauger, einen AKKUSTAUBSAUGER! 

Januar

Kalte Fuesse wecken mich. Ich gucke aufs Thermometer: -2 Grad. Bischen frisch. Ein Schiff faehrt draussen vorbei, viel lauter als sonst. Der Motor droehnt auf. Mein Herz klopft: kaempft der Schiffsmotor gegen Eisschollen? Ist der Kanal zugefroren? Ich springe aus dem Bett, zwei Paar Socken, zwei Hosen, zwei Jacken und die dicke Daunenjacke drueber. Kamera mit. Den Moment will ich mir nicht entgehen lassen. Ein Schiff durchkracht im dichten Morgennebel die dicken Eisschollen, welche sich vor dem Bug erst senkrecht nach oben heben um dann anschliessend laut krachend wieder niedergewalzt zu werden. Das wird ein Wahnsinnsbild.

Ich reisse das Vorzelt auf, laufe die Paar Meter und sehe schon: keine Eisschollen, ganz normal, wie immer. Fast.

Die Pfuetzen sind zugefroren, Eiszapfen haengen ueber dem Fenster meines Vorzeltes. Ein glitzernes Weiss umhuellt jeden einzelnen Grashalm, jeden Zweig, macht die unsichtbaren Spinnweben sichtbar. 

Das andere Ufer ist im Nebel verschwunden. Ein Schiff legt gerade an. Ein Jogger kommt mir aus dem Nebel heraus entgegengelaufen. Was fuer ein toller Morgen, auch ohne Eisschollen. 

Wie jeden Morgen breite ich die Isomatte im Vorzelt aus, Zuende die rote Kerze und den Kocher an. Die Flamme brennt auf hoechster Stufe und heizt das Vorzelt in null komma nichts ein paar Grad hoeher. Klicke mich auf meinem Handy zur Yoga-App und beginne. 

Februar

Ich klicke mich durch die Bilder der letzten 1,5 Jahre, erlebe noch einmal diese Zeit, diese Reise durch Argentinien, Chile und Bolivien im konzentrierten Schnelldurchgang. Spuere die Kaelte, die Hitze, den Wind, die duenne Luft. Je nach Foto. Erlebe noch einmal die Woche auf der Estancia Santa Margarita im Sueden Argentiniens. Ich half Lucho beim Kochen, schnippelte Kartoffeln, wusch ab, und trank literweise Mate und schoss hunderte von Fotos.

Die taegliche Suche nach einem geeigneten Schlafplatz, die anschliessende Zufriedenheit und auch Erleichterung, einen gefunden zu haben. Die so seltenen genussvollen Momente, einfach mal irgendwo bleiben zu koennen, sich ausruhen zu koennen. Einfach mal da zu sein, ohne doch mit einem Ohr horchen zu muessen und wachsam zu bleiben, oder mit seinem Gastgeber plauschen zu muessen. 

Ich liege hier in meinem Bett auf meinem Schaffell, den Laptop mit den Bilder auf dem Schoss, in meinem Wohnwagen, gucke zur Decke, betrachte die angeschaltete Nachttischlampe neben mir. 

Ich habe Strom. Draussen nieselt es ein wenig. Ich habe es trocken. Ich kuschele mich noch tiefer unter die Bettdecke. Wenn ich wollte, koennte ich mir noch eine Waermflasche machen. Ich kann hier bleiben, solange ich will, ich muss mit niemandem reden, wenn ich nicht will. Ich kann aufraeumen oder es sein lassen. Licht anlassen oder ausmachen, ganz nach Belieben.

Ich bin gluecklich. Dieses alte, wohlbekannte Gefuehl zusammen mit einer tiefen Dankbarkeit breitet sich waermend in mir aus. Wie oft habe ich es in den letzten Jahren erfahren koennen und nun auch hier, in Minden, in meinem Wohnwagen. 

In meinem Kopf formen sich schon wieder Ideen. Ich habe neue Traeume. Charlotte ist laengst ausgepackt und steht schon in den Startloechern.

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Zukunftsaussichten

Life inbetween

Flying back home to Germany (press on foto to enlarge)
Impressionen vom Campingplatz

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Die Mühle in Petershagen

4 Gedanken zu “Upgraded life

  1. Dann bin ich mal gespannt, wie lange du es aushältst, bevor es dich wieder auf die Piste treibt. Willkommen in der alten Heimat, bleib xund und liebe Grüße aus Stuttgart – roland

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